Mediale Kommunikation und Raum in der Vormoderne

Mediale Kommunikation und Raum in der Vormoderne

Organisatoren
Heidelberger Landespromotionskolleg „Das Konzert der Medien in der Vormoderne: Gruppenbildung und Performanz"
Ort
Loveno di Menaggio
Land
Italy
Vom - Bis
27.02.2008 - 02.03.2008
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Von
Marion Philipp, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Landespromotionskolleg „Das Konzert der Medien in der Vormoderne: Gruppenbildung und Performanz“

Vom 27. Februar bis zum 2. März 2008 fand im Deutsch-Italienischen Zentrum Villa Vigoni (Como, Italien) ein Interdisziplinäres Doktorandenkolloquium zum Thema „Mediale Kommunikation und Raum in der Vormoderne“ statt. Die Veranstaltung war von den Stipendiaten des Heidelberger Landespromotionskollegs „Das Konzert der Medien in der Vormoderne: Gruppenbildung und Performanz“ konzipiert und in Zusammenarbeit mit CHRISTIANE LIERMANN (Villa Vigoni) realisiert worden. Die Finanzierung erfolgte aus den Mitteln der Gerda-Henkel-Stiftung.

Für die wissenschaftliche Leitung des Kolloquiums konnten TONIO HÖLSCHER (Heidelberg), KLAUS KRÜGER (Berlin) und LIESELOTTE E. SAURMA (Heidelberg) gewonnen werden. FRIEDRICH VOLLHARDT (München) und STEPHAN GÜNZEL (Potsdam) leiteten zwei theoretisch-methodische Arbeitsmodule. Neben den sechs Stipendiaten des Landespromotionskollegs nahmen zehn weitere Nachwuchswissenschaftler am Kolloquium teil. Als Diskutanten waren der Kunsthistoriker Stefan Schweizer (Düsseldorf), der Musikwissenschaftler Alexander Bunk (Berlin), der Klassische Archäologe Burkhard Emme (Heidelberg) und die Kunsthistorikerin Jeannet Hommers (Potsdam/Hamburg) eingeladen.

Ziel des Kolloquiums war es, die räumlichen, performativen und medialen Dimensionen vormoderner Kommunikationsgemeinschaften im fächerübergreifenden Austausch auszuloten und mögliche Analysekategorien für eine Medien- und Kommunikationsgeschichte der Vormoderne zu entwickeln. Theoretisch-methodischer Ausgangspunkt war die Annahme, dass Raum, soziales Handeln (Performanz) und mediale Kommunikation in einem intensiven Spannungs- und Wechselverhältnis stehen. Dabei interessierten vor allem Fragen zur Kommunikation in realen und imaginären (virtuellen) Räumen, zur Definition von Kommunikation durch Raum, zur medialen Besetzung und Konstituierung von Raum sowie zu medialen Raumrepräsentationen.

Schon der erste Kolloquiumstag sensibilisierte für die Vielfalt des Raumbegriffs und seine Komplexität. Die Vorträge der Nachwuchswissenschaftler, die sich an Beispielen aus ihren Forschungen mit der Kolloquiumsthematik auseinander setzten, behandelten reale (substantielle) Räume, imaginäre Räume und Diskurse über Raum. Als Erster referierte der Kunsthistoriker und Klassische Archäologe MARKUS LÖX (Rom) über „Die frühchristlichen Kirchen Ravennas als Orte medialer Kommunikation“. Sein Augenmerk galt den Bischöfen als Stifter der Gebäude und Initiatoren der bildlichen Ausstattung. An den Kirchen San Vitale (Ravenna) und Sant’ Apollinare in Classe (Ravenna) demonstrierte Löx, wie Bischöfe den Kirchenraum im 6. Jahrhundert zur persönlichen Repräsentation und Legitimation nutzten. Dabei sei es den Bischöfen um die Kommunikation weltlicher Ansprüche und um die heilsgeschichtliche Aufladung ihres Amtes gegangen. Der Adressat der Botschaften ergebe sich durch die Sichtbarkeit der Bilder, die von Standort zu Standort variierte und für Laien im Allgemeinen schlechter, für Kleriker in der Regel besser war. Ausgehend von der bildwissenschaftlichen Interpretation der Mosaiken stellte Löx überzeugend dar, dass sich die Bedeutung der Bilder mit der physischen Präsenz des Bischofs im Kirchenraum potenzierte und aktuelle Bezüge zwischen den Mosaiken und der liturgisch-politischen Wirklichkeit offenbar wurden.

Fragen nach dem spezifisch räumlich-funktionalen Kontext eines Ausstattungsprogramms und seiner medialen Instrumentalisierung stellte auch die Kunsthistorikerin IMKE WARTENBERG (Berlin). Gegenstand ihres Vortrages zur „Visualisierung institutioneller Ordnungen in Räumen der Rechtsprechung – Bildprogramme im Italien des 14. Jahrhunderts“ waren die Fresken der Sala d’Udienza der Florentiner Arte della Lana. Sorgfältig deckte Wartenberg Analogien zwischen dem Wandbild des Brutus als gutem Richter inmitten eines Tugenden- und Lasterkampfes und der realen Gerichtssituation in der Sala d’Udienza auf, dem Raum, in dem die Organe der Wollweberzunft Recht sprachen. In den Lasterdarstellungen und den ihnen beigeordneten Inschriften sah Wartenberg spezifische Gefahren des Richteramts verkörpert. Sie folgerte, das Bildprogramm kommuniziere auf diese Weise Wertvorstellungen von der Tugendhaftigkeit einer richterlichen Amtsperson, zumal diese durch die Darstellung des Jüngsten Gerichts auf der anderen Wand sakralisiert und aufgewertet werde. Wartenberg konstatierte, dass die Fresken zur Stabilisierung von Ordnung in der konkreten Gerichtssituation beitragen sollten und damit indirekt der inneren Befriedung der Florentiner Kommune in den 1330er- und 1940er-Jahren dienten. Neben der realen Ordnung des Raumes sei in der Sala d’Udienza folglich eine abstrakte Ordnung des Raumes auszumachen.

Ein anderer Raumbegriff lag dem Vortrag der Historikerin STEFANIE RÜTHER (Münster) zugrunde, die über „Sichere Räume im Mittelalter? Zur medialen Konstruktion eines unmöglichen Zustands“ referierte. Ausgangspunkt war die Annahme, im Mittelalter sei Sicherheit ein gesellschaftliches Konstrukt gewesen, das sich erst durch Raumbezug materialisiert habe. An verschiedenen Beispielen gab Rüther einen weiten Überblick über das mittelalterliche Verständnis von ‚Sicherheit’ und ‚sicheren Räumen’. Dabei differenzierte sie zwischen obrigkeitlichen Medien der Sicherheitsproduktion (Privilegien, Gesetze und Verbote) und objektbezogenen Praktiken (Schützen und Bewachen). Sie schloss mit einem Exkurs zur Repräsentation von Sicherheit in Bildern.

Der Vortrag „Memorialort und Erinnerungslandschaft. Grabstätten in Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts“ des Kunsthistorikers SASCHA WINTER (Heidelberg) widmete sich den räumlichen und medialen Dimensionen des Phänomens ‚Grab und Garten’. Zunächst erfolgte eine Verortung der als raumbezogene Medien verstandenen Grabmäler und Mausoleen im gartenkünstlerischen und rezeptionsästhetischen Kontext der Landschaftsgärten. Anschließend galt es, den komplexen (inter-)medialen Referenz- und Diskurshorizont von Gartengräbern aufzuzeigen. Anhand aussagekräftiger Beispiele wie Sanssouci, Wörlitz, Kassel, Lütetsburg und Machern konnte Winter veranschaulichen, wie stark die Grabstätten in Landschaftsgärten in ihrer Gestaltung und Wahrnehmung durch textlich-visuelle Vermittlungen von realen und imaginären Orten bzw. Räumen geprägt waren. Das ‚Grabmal in der Natur’ war nicht nur repräsentatives Medium und Memorialort für einen Verstorbenen, sondern zugleich eine vielschichtige, mediale Projektionsfläche von literarisch-mythologischen und klassisch-historischen Ideal- und Erinnerungsorten (z.B. Arkadien, Elysium oder Tusculum), die durch Literatur, Kunst, Historiographie und Reiseerfahrung im zeitgenössischen Bildungskanon präsent waren. Der abschließende Blick richtete sich auf die performative Aneignung bzw. Inszenierung der Gartengräber durch vielfältige Begräbnis- und Gedenkfeiern.

Der Historiker MARIAN FÜSSEL (Münster) begann seinen Vortrag zum Thema „Kriegstheater. Das Schlachtfeld als medialer Raum im 18. Jahrhundert“ mit Peter Sloterdijks Idee der zwei Schlachtfelder moderner Kriege: dem realen Schlachtfeld und dem Schlachtfeld der Bilder. Füssel identifizierte die Anfänge dieser Entwicklung, die er ‚Enträumlichung des Kriegsgeschehens’ nannte, in den theatrum belli-Werken der frühen Neuzeit. Er stellte das Theater als narratives Darstellungsmodell kriegerischer Handlungen vor, ging aber auch auf den universalen Gebrauch der Theatermetapher in zeitgenössischen Raumrepräsentationen ein. Am Beispiel der Schlacht von Lobositz (1756) beschrieb Füssel anschließend, wie die Wahlstatt in der Schlacht performativ besetzt wurde, und wie das Schlachtfeld nach Beendigung der Kriegshandlung räumlich definiert und dann medial (publizistisch) repräsentiert wurde. Den Abschluss der Entwicklung markierte, so Füssel, die Transformation des Ortes der Vernichtung in einen Ort der Erinnerung, der besucht und im 19. Jahrhundert mit Denkmälern und Gedenkfeiern gewürdigt wurde. Der Vortrag Füssels verdeutlichte die mehrfache Verschränkung von Raum (Räumen) und Medien und verfolgte ihre Dynamik über mehrere Jahrhunderte.

Am zweiten Kolloquiumstag standen performativ besetzte Räume und ihre Medien im Zentrum. Den Anfang machte die Klassische Archäologin CAROLINE RÖDEL (Heidelberg) mit „Überlegungen zur kommunikativen Leistung der Stiftungen und Ehrungen römischer Magistrate“. Sie thematisierte in ihrem Vortrag, wie Statuenmonumente von und für römische Magistrate zur Vermittlung bestimmter Botschaften eingesetzt werden konnten. Ausgehend vom Bildnistyp, von Statuenform und -material, vom Text (als Inschrift auf der Statuenbasis oder als Ehrendekret), vom Ton (als öffentliche Proklamation) und anderen Faktoren, die die Aussage der Botschaften beeinflussen konnten, entwickelte Rödel ein Kommunikationssystem, das sie anschließend am Pfeilermonument des Agrippa (Athen), den Statuen der Caesarmörder (Athen) und dem Pfeiler des Aemilius Paullus (Delphi) ausführte. Dabei zeigte sie, welche Bedeutung die spezifische Form der Monumente, ihr Aufstellungsort und dessen räumliche Beziehung zu benachbarten Monumenten im Kommunikationssystem einnahmen, und verdeutlichte, dass das Verständnis der durch die Monumente vermittelten Botschaften von der Seherfahrung und dem Vorwissen des antiken Betrachters abhängig waren. Die antiken Monumente könnten heute nur bei Berücksichtigung aller medialen und sonstigen Faktoren verstanden werden.

Den Klassischen Archäologen PATRIC-ALEXANDER KREUZ (Bochum) interessierte in seinem Vortrag „Urbane Landschaft. Stadtbild und Stifter in den römischen Städten Italiens“ die Frage, wie sich Städte durch öffentliche Architekturen (‚Symbolbauten’) inszenierten. An den Foren der Städte Veleia, Forum Clodii und Pompeii zeigte Kreuz, dass der öffentliche Raum durch kaiserliche, obrigkeitliche und private Stiftungen geprägt, medial besetzt und langfristig angereichert wurde. Dabei manifestierte sich der Wunsch der Stifter nach Selbstdarstellung, Nachruhm und sozialem Aufstieg nicht nur in Architektur und Plastik, sondern vor allem in Inschriften und performativen Handlungen (z.B. öffentlichen Speisungen). Der Vortrag von Kreuz zeigte eindrücklich, dass die mediale Hoheit über Zeit und Raum immer das Resultat von Verhandlungen zwischen verschiedenen Gruppen darstellt und keinesfalls als Zufallsprodukt betrachtet werden darf.

THORSTEN HUTHWELKER (Heidelberg) referierte in seinem Beitrag über „Das Schlachtgedenken Friedrichs I., des Siegreichen, als memoriale Besetzung des Raumes“. In Erinnerung an die siegreichen Schlachten des Pfalzgrafen sollten ab 1462 in einer jährlich stattfindenden Prozession verschiedene Kirchen und Klöster der Haupt- und Residenzstadt Heidelberg begangen werden. Dabei fiel die Wahl auf jene Gebäude, die symbolisch für Dynastie, Stadt und Universität standen. So wurde die Heiliggeistkirche eingebunden, die Grablege der Dynastie, wo sich Friedrich als Friedensfürst u.a. in einer steinernen Tafel hatte verewigen lassen. Mit der strengen Ausrichtung des Gedenkens auf seine Person plante Friedrich, ein unsichtbares Band zwischen sich und der Dynastie, dem Territorium und den Untertanen zu knüpfen, was der Legitimation seines durchaus fragwürdigen Herrschaftsanspruchs dienen sollte.

Die Klassische Archäologin SOI AGELIDIS (Istanbul) referierte über „Prozessionen und ihre Denkmäler in den Städten und Heiligtümern des westlichen Kleinasien“. Am Beispiel diverser Pompai in Kapikaya, Pergamon, Ephesos und Kos erläuterte sie den kommunikativen und raumkonstituierenden Charakter von Prozessionen, die nicht nur in rituell-religiöser, sondern auch in sozialer und machtpolitischer Hinsicht Bedeutung hatten. Eingehender ging Agelidis auf die Prozessionswege ein, die sich in Anlage, Nutzung und Ausgestaltung sehr voneinander unterschieden. In Abhängigkeit von der geehrten Gottheit, der Jahres- und Tageszeit, den involvierten Personengruppen usw. wurde derselbe Raum anders erschlossen und erlebt. Agelidis betonte die Heterogenität der Festzüge ebenso wie ihre Einzigartigkeit. Das Verhältnis zwischen Raum und Prozession sei deshalb nicht statisch, sondern ausgesprochen dynamisch zu verstehen.

Die Kunsthistorikerin MARION PHILIPP (Heidelberg) ging in ihrem Vortrag über „Ehrenpforten und ihre Standorte“ weniger den performativen als den medialen Aspekten frühneuzeitlicher Herrschereinzüge nach. Sie formulierte die These, dass bei Ehrenpforten neben dem epigraphisch-ikonographischen Programm auch die Standorte Bedeutung transportierten. An den Ehrenpforten, die für Kaiser Karl V. 1526 in Sevilla und 1541 in Nürnberg errichtet wurden, demonstrierte Philipp, dass der Standort nicht immer dem ästhetischen oder szenographischen Optimum entsprach, sondern dass seine Wahl auch programmatisch motiviert sein konnte. Die vorhandene Raumordnung wurde dabei unterschiedlich stark berücksichtigt: In Sevilla kreierte der aus sieben Ehrenpforten bestehende Festapparat einen ‚Tugendpfad’, er ordnete den städtischen Raum also neu. Anders war die Situation in Nürnberg, wo eine Ehrenpforte ianusartige Züge aufwies und die imaginäre Grenze zwischen Stadt und Burg besetzte. Philipp betonte, dass räumliche Bezüge im Programm einer Ehrenpforte immer auf eine besondere Bedeutung des Standortes hinwiesen. Sie interpretierte dies als gelehrte Spielerei der das Programm planenden Humanisten, welche aus der Notwendigkeit, die Ehrenpforte im Raum zu platzieren, eine intellektuelle Herausforderung gemacht hätten.

Anschließend referierte die Kunsthistorikerin DOROTHEE LINNEMANN (Münster) aus ihrem Dissertationsprojekt „Das europäische Gesandtschaftswesen des 17. Jahrhunderts im Bild“ über „Räume zwischen ‚Sein‘ und ‚Schein‘ im Spannungsfeld von symbolischer und medialer Inszenierung“. Ihr Vortrag widmete sich den medialen Funktionen von Bildwerken im Gesandtschaftswesen. Dabei unterschied Linnemann zwei Arten von Bildnissen: Bildnisse, die den nicht anwesenden Herrscher im Zeremoniell vergegenwärtigten, und Bildnisse, die das Zeremoniell abbilden. Letztere fingen das Ereignis mit argumentativer Absicht ein, weshalb sie die historische Wirklichkeit nicht bloß reproduzierten, sondern modifizierten und zuweilen bestritten. Sie konstruierten folglich eine neue, vermeintlich authentische ‚Wirklichkeit’. An Gerard ter Borchs Gemälde Der Friedensschluss zu Münster (1648) veranschaulichte Linnemann, dass die Rangverhältnisse der Gesandten im Bildnis durch Gestik, Kleidung und Position zum Ausdruck gebracht wurden.

Der letzte Kolloquiumstag war imaginären, zumeist literarisch-theatralischen Räumen vorbehalten. Der Anglist PHILIPP HINZ (Berlin) eröffnete die Sektion mit seinem Vortrag über „Fantastische Erzählungen und liminale Räume in Geoffrey Chaucers ›Canterbury Tales‹“. An Textpassagen aus der Squire’s Tale, der Franklin’s Tale und der Prioress’s Tale hob er auf die enge Verbindung von Raum und Magie bei Chaucer ab. Deutlich wurde, dass die Magie in zweifacher Hinsicht als Medium fungierte: Zum einen war sie Werkzeug, um Grenzen zu überschreiten und fantastisch-exotische Räume zu erschließen. Zum anderen waren die Räume ein Resultat der Magie. Ob Chaucers ‚Räume’ als liminale Orte (Victor Turner) oder Krisenheterotopien (Michel Foucault) aufgefasst werden können, waren weitere Fragen von Hinz.

Die Kunsthistorikerin ANNETTE HOFFMANN (Florenz/Heidelberg) referierte aus ihrem gemeinsam mit Prof. Dr. GERHARD WOLF (Florenz) betriebenen Forschungsprojekt „Jerusalem as Narrative and Iconic Space (4th to 15th century)“ über „Die wandernde Leiche des Pontius Pilatus und ihre Räume“. Im Zentrum ihres Vortrags stand die Leiche des römischen Statthalters Pontius Pilatus, von dem das Neue Testament berichtet, er habe Jesus von Nazareth zum Tod am Kreuz verurteilt. Ohne dass es körperliche Überreste von Pilatus gegeben hätte, machte seine ‚Leiche’ im Mittelalter als imaginierte ‚Antireliquie’ Karriere. Hoffmann zitierte aus den Werken mittelalterlicher Autoren und aus volkstümlichen Legenden, die das Grab in unwirtlichen Naturräumen wie dem Septimer oder dem Pilatus verorten. Dabei wurde deutlich, dass Legenden einer zeit- und raumversetzten Kommunikation unterworfen sind, die ihren Gegenstand – in diesem Fall die Leiche des Pontius Pilatus – aus allen räumlichen Zwängen befreien, sie sogar ‚wandern’ lassen können.

Der Musikwissenschaftler ADRIAN KUHL (Heidelberg) bezog in seinem Vortrag „Spiel-Räume: Zur musikalischen Raummetaphorik im Singspiel der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ Michel Foucaults Heterotopie-Konzept auf das Musiktheater und führte aus, dass die Gestaltung von Text und Musik für die mediale Kommunikation im Opernhaus neben Bühnenbildern, Kostümen und Schauspielaktion eine wesentliche Rolle spielt. Am Beispiel musikalischer ‚Raum-Vermittlung’ ging er der Frage nach, welche Gestaltungsmittel Komponisten im späten 18. Jahrhundert zur Verfügung standen, um Informationen aus dem dramatischen Raum an den Zuschauer zu kommunizieren. An der Orientdarstellung in Georg Joseph Voglers Singspiel Der Kaufmann von Smyrna zeigte Kuhl musikalische Topoi auf, die Vogler zur Vermittlung von geographischem Raum eingesetzt hat. Er wies darauf hin, dass diese Vermittlung neben der Erzeugung orientalischen Flairs außerdem zur Charakterzeichnung der Figuren verwendet wurde. An Johann Rudolph Zumsteegs Singspiel Die Geisterinsel, dessen Libretto eine freie Bearbeitung von William Shakespeares The Tempest darstellt, machte er außerdem deutlich, wie werkspezifisch codierte Kontrastwirkungen mithilfe von Assoziationen und tradierten Erwartungshaltungen des Zuschauers dazu genutzt werden konnten, soziale Raumanordnungen zu vermitteln.

Die Kunsthistorikerin DANIELA WOLF (Heidelberg) widmete sich der Frage, wie ein mittelalterlicher Codex eröffnet wird. In ihrem Vortrag „Der ‚Renner‘ des Hugo von Trimberg: Das Titelbild zwischen dem Raum des Rezipienten und dem Raum des Codex“ ging sie zunächst der Bedeutung des Titels aus literaturhistorischer Perspektive nach. Aus einschlägigen Textstellen folgerte Wolf, dass der Begriff ‚rennen’ im Verlauf des Textes einen Ritt durch den Raum des Buches beschreibt und gleichzeitig Bezug auf den Rezeptionsraum nimmt, indem der ‚Renner’ allegorisch für den Boten und die Verbreitung des Textes steht. Anschließend analysierte Wolf, wie eine bebilderte Renner-Handschrift aus dem Jahr 1400 eröffnet wird. Darin stellt die erste Miniatur einen Reiter dar, der sich performativ durch ein Schriftband in der Hand an den Betrachter wendet. Wolf verstand die Figur des Reiters als Allegorie auf den Titel. Durch ikonographische Vergleiche zeigte sie, dass mit der Personifizierung des Buches zudem die Möglichkeit gegeben wird, das Buch als das Gegenüber einer dialogisch organisierten ‚face-to-face’-Kommunikation wahrzunehmen. Durch den repräsentativen Status der Titelfigur werde zudem auf eine höfisch-herrschaftliche Autorität verwiesen, die auf den sozialen Raum des Auftraggebers aus dem Umkreis des Habsburger Hofes Bezug nimmt und gleichzeitig das Werk, dem diese Figur voranreitet, auszeichnet.

Die Kunsthistorikerin ALMUT POLLMER (Leiden) stellte mit „Publieke kerk. Die Inszenierung von religiösem Raum in der niederländischen Malerei um 1650 am Beispiel der Predigtdarstellung des Emanuel de Witte“ einen Aspekt ihres Dissertationsvorhabens über nordniederländische Kircheninterieurs des späten 17. Jahrhunderts vor. Dabei konzentrierte sie sich auf die publieke kerk der Reformierten, die in den damaligen Niederlanden die Staatskirche bildete. Nach Ausführungen zu Nutzung, Zugänglichkeit und Öffentlichkeit der Kirchen machte Pollmer an den Predigtbildern De Wittes deutlich, dass diese keine reformierten ‚Orte’ darstellen. Stattdessen bilden sie einen öffentlichen ‚Raum’ ab, in dem gerade eine reformierte Predigt stattfindet. Pollmer führte an verschiedenen Gemälden vor, dass sich der religiöse Impetus in einer spezifischen Auffassung vom Kirchenraum niederschlug. So negierten die Gemälde die baulich-räumliche Ausrichtung des Gebäudes, meist erhalte die Kanzel den Vorzug vor dem Altar. Pollmer interpretierte die Kircheninterieurs als Argumentationsmittel im konfessionellen Diskurs.

Die intensiven Diskussionen nach jedem Vortrag, nach jedem Kolloquiumstag und am Schluss der Veranstaltung kreisten immer wieder um Raumbegriff und Raumverständnis. Im Mittelpunkt standen Fragen nach dem ‚Raum’ im Singular und im Plural, nach parallelen, sich überlagernden oder ineinander verschränkten Räumen und nach den substantiellen oder funktionalen Qualitäten von Räumen bzw. Raumordnungen. Bei der Klärung dieser Fragen erwies sich der methodische und inhaltliche Pluralismus im Umgang mit dem Raumbegriff in den beim Kolloquium vertretenen Disziplinen und Fächern nicht als Hindernis, sondern lieferte neue Impulse.

Als gewinnbringend empfanden die Teilnehmer vor allem die theoretisch-methodischen Arbeitsmodule, die sich mit den Raum-‚Klassikern’ von Ernst Cassirer, Michel Foucault und Henri Lefebvre auseinander setzten, was letztlich maßgeblich dazu beitrug, dass eine gemeinsame Sprache gefunden wurde, die im Verlauf des Kolloquiums an Präzision gewann.

Am konkreten Forschungsmaterial zeigte sich freilich, wie schwierig die Applikation raumtheoretischer Modelle ist. Hingegen wurde deutlich, dass ein flexibler Umgang mit dem Raumbegriff sehr fruchtbar sein kann. So belegten die Vorträge, dass ein stärker raumbezogenes Denken und Fragen immer mit Erkenntnisgewinn einhergeht und Perspektiven eröffnet, die sich zuvor nicht abgezeichnet hatten.

Als Fazit der Veranstaltung ist festzuhalten, dass die Unschärfe des Raumbegriffs – der erst in den jüngsten Handbüchern eigene Einträge erhielt – nicht negativ zu werten ist, sondern Chancen bietet, die gerade im interdisziplinären Austausch zum Tragen kommen. Eine Annäherung an den ‚Raum’ sollte zunächst jedoch beschreibend erfolgen. Wie dies geschehen kann, hat das Kolloquium in gelungener Weise gezeigt.

Konferenzübersicht:

28. Februar 2008
Tonio Hölscher (Heidelberg): Moderation
Markus Löx (München): Die frühchristlichen Kirchen Ravennas als Orte medialer Kommunikation
Imke Wartenberg (Berlin): Visualisierung institutioneller Ordnungen in Räumen der Rechtsprechung – Bildprogramme im Italien des 14. Jahrhunderts
Stefanie Rüther (Münster): Sichere Räume im Mittelalter? Zur medialen Konstruktion eines unmöglichen Zustands
Stephan Günzel (Potsdam) Arbeitsmodul I zu Texten von Henri Lefebvre und Ernst Cassirer
Sascha Winter (Heidelberg): Memorialort und Erinnerungslandschaft. Grabstätten in Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts
Marian Füssel (Münster): Kriegstheater. Das Schlachtfeld als medialer Raum im 18. Jahrhundert

29. Februar 2008
Lieselotte E. Saurma (Heidelberg): Moderation
Caroline Rödel (Heidelberg): Überlegungen zur kommunikativen Leistung der Stiftungen und Ehrungen römischer Magistrate
Patric-Alexander Kreuz (Bochum): Urbane Landschaft. Stadtbild und Stifter in den römischen Städten Italiens
Thorsten Huthwelker (Heidelberg): Das Schlachtgedenken Friedrichs I., des Siegreichen, als memoriale Besetzung des Raumes
Soi Agelidis (Istanbul/Bonn): Prozessionen und ihre Denkmäler in den Städten und Heiligtümern des westlichen Kleinasien
Marion Philipp (Heidelberg): Ehrenpforten und ihre Standorte
Dorothee Linnemann (Münster): Räume zwischen ‚Sein’ und ‚Schein’ im Spannungsfeld von symbolischer und medialer Inszenierung

01. März 2008
Klaus Krüger (Berlin): Moderation
Philipp Hinz (Berlin): Fantastische Erzählungen und liminale Räume in Geoffrey Chaucers ‚Canterbury Tales’
Annette Hoffmann (Florenz/Heidelberg): Die wandernde Leiche des Pontius Pilatus und ihre Räume
Adrian Kuhl (Heidelberg): Spiel-Räume: Zur musikalischen Raummetaphorik im Singspiel der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Friedrich Vollhardt (München): Arbeitsmodul II zu Texten von Michel Foucault und Daniel Fulda
Daniela Wolf (Heidelberg): Der ‚Renner’ des Hugo von Trimberg: Das Titelbild zwischen dem Raum des Rezipienten und dem Raum des Codex
Almut Pollmer (Leiden): Publieke kerk. Die Inszenierung von religiösem Raum in der niederländischen Malerei um 1650 am Beispiel der Predigtdarstellung des Emanuel de Witte

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